Autonome Ziele in der Paartherapie: Warum persönliche Entwicklung der wirksamste Hebel für Beziehungswandel ist

Autonome Ziele in der Paartherapie: Warum persönliche Entwicklung der wirksamste Hebel für Beziehungswandel ist

In der modernen Paartherapie hat sich ein zentraler Gedanke durchgesetzt: Beziehungen verändern sich vor allem dann, wenn sich die beteiligten Personen weiterentwickeln. Dieser Ansatz ist keineswegs esoterisch, sondern gründet auf jahrzehntelanger systemischer, bindungstheoretischer und entwicklungspsychologischer Forschung. Ein Schlüsselkonzept innerhalb dieser Perspektive sind die autonomen Ziele – persönliche Entwicklungsziele, die jeder Partnerin für sich formuliert, um festgefahrene Muster zu verändern.

Autonome Ziele ersetzen die klassische Forderung „Du musst …“ durch die Frage „Welchen Beitrag will und kann ich zu einer besseren Beziehungsdynamik leisten?“. Diese Verschiebung ist nicht nur methodisch sinnvoll, sondern auch notwendig: Sie schafft Selbstwirksamkeit, reduziert Eskalationen und erweitert die Handlungsspielräume beider Partner.

Warum autonome Ziele wirksam sind – theoretische Fundierung

1.1 Entwicklungsmodell nach Bader & Pearson: Wachstum durch Differenzierung

Bader & Pearson beschreiben Paare als Systeme, die sich nur dann stabilisieren, wenn beide Partner sich innerlich weiterentwickeln. Zentral ist dabei die Idee der Differenzierung: Die Fähigkeit, die eigene emotionale Realität wahrzunehmen und zu regulieren, ohne sich entweder zu verschmelzen oder zurückzuziehen.

Autonome Ziele wirken genau an diesem Punkt:

  • Sie fördern Selbstfokussierung statt Partnerfokussierung.
  • Sie stärken Selbstregulation, da der Fokus auf den eigenen Beitrag zu Konflikten gelegt wird.
  • Sie unterstützen reifes Beziehungsverhalten, indem sie ein Verhalten bewusst fördern, das nicht reflexhaft gesteuert ist.

Damit sind autonome Ziele ein praktisches Werkzeug, um das Entwicklungsmodell in die Paartherapie zu übersetzen. Paare wachsen nicht, indem sie sich gegenseitig korrigieren, sondern indem jeder Teil Verantwortung für die eigene Entwicklung übernimmt.

Bindungstheoretische Perspektive (EFT nach Sue Johnson)

Die Emotionsfokussierte Paartherapie zeigt, dass Paare vor allem dann feststecken, wenn unbewusste Bindungsängste aktiviert werden und automatische Schutzreaktionen (Rückzug, Angriff, Abwertung) einsetzen.

Autonome Ziele greifen hier ein, indem sie helfen:

  • diese Reaktionen bewusst zu erkennen,
  • alternative, emotional zugängliche Verhaltensweisen zu entwickeln,
  • Sicherheit im Bindungssystem wiederherzustellen.

Ein autonomes Ziel wie „Ich möchte sprechen, bevor ich mich zurückziehe“ ist deshalb keine Verhaltenstechnik, sondern eine Intervention auf der Ebene der Bindung.

Wie autonome Ziele in der Praxis formuliert werden – der Ansatz nach Erik Hegmann

Erik Hegmann arbeitet in seinen Paartherapien – insbesondere in intensiven Formaten – mit einer klar strukturierten Vorgehensweise:

  1. Jede Person formuliert persönliche Entwicklungsziele, nicht Erwartungen an den Partner.
  2. Diese Ziele beziehen sich auf Haltung, Verhalten oder Reaktionsmuster in Schlüsselmomenten.

  3. Die Ziele bilden den Kompass für den Therapietag und werden in Übungen immer wieder konkret überprüft.

Hegmanns Ansatz basiert auf zwei zentralen Wirkannahmen:

  • Menschen sind handlungsfähig, wenn sie sich auf den eigenen Einflussbereich konzentrieren.
  • Beziehungsmuster verändern sich zuverlässig, wenn eine Person ihr eigenes Muster ändert.

Typische Interventionen, die er dafür nutzt (Stop–Replay, Initiator–Interviewer, Anteilearbeit), verfolgen stets das Ziel, die eigene Position zu klären und Autonomie im Konfliktmoment zurückzugewinnen.

Wichtig ist dabei: Autonome Ziele sind nicht darauf ausgelegt, den Partner zu „erziehen“. Sie reduzieren vielmehr die emotionale Reaktivität und ermöglichen dadurch eine neue Qualität der Begegnung.

Warum autonome Ziele besonders in kurzzeitintensiven Paartherapien wertvoll sind

Kurzzeitintensive Paartherapie wurde insbesondere von Eric Hegmann in Deutschland bekanntgemacht. In der ARD-Serie und dem gleichnamigen NDR-Podcast zeigt er immer wieder eindrücklich, wie er die autonomen Ziele von Partnern herausarbeitet. In intensiven 6-stündigen Sitzungen – oder in Tagesworkshops – entsteht ein hochkonzentrierter Raum, in dem Paare ihre Muster sehr deutlich erleben. Autonome Ziele helfen, diese Prozesse zu strukturieren.

Vorteile in der Intensivarbeit:

  • Sie geben dem Tag eine klare, persönliche Ausrichtung.
  • Sie verhindern, dass die Verantwortung für Veränderung ausschließlich beim anderen gesucht wird.
  • Sie ermöglichen schnelle Fortschritte, weil sie konkrete, überprüfbare Schritte definieren.
  • Sie stabilisieren den Transfer in den Alltag.

Gerade in intensiven Formaten zeigt sich oft: Ein einziger Partner, der sein Muster verändert, verändert das ganze System.

Chancen und Grenzen autonomer Ziele

Chancen

  • Höhere Selbstwirksamkeit: Der Fokus liegt auf Dingen, die man selbst unmittelbar beeinflussen kann.
  • Weniger Eskalation: Autonome Ziele verhindern Schuldzuweisungen und reduzieren Stressreaktionen.
  • Mehr Differenzierung: Paare entwickeln mehr innere Klarheit, anstatt sich gegenseitig zu regulieren.

Mögliche Grenzen

  • Wenn nur ein Partner bereit ist, an sich zu arbeiten, kann dies zu temporären Ungleichgewichten führen.
  • Zu abstrakt formulierte Ziele („Ich will gelassener werden“) sind therapeutisch kaum nutzbar.
  • Autonome Ziele funktionieren nicht als verdeckte Forderungen („Wenn ich mich beruhige, musst du aber …“).

Autonome Ziele als Hebel für Beziehungsentwicklung

Autonome Ziele sind keine weiche „Selbsthilfetechnik“, sondern ein präzises, theoretisch gut fundiertes Werkzeug, um Beziehungsmuster nachhaltig zu verändern. Sie verbinden:

  • die differenzierungsorientierte Sicht von Bader & Pearson,
  • die bindungstheoretischen Erkenntnisse der EFT,
  • die praxisorientierte Struktur der Arbeit von Erik Hegmann.

Für Paare entsteht durch autonome Ziele ein klarer, realistischer Rahmen: Ich konzentriere mich auf das, was in meiner Verantwortung liegt – und genau dadurch schaffen wir gemeinsam eine neue Dynamik.