Koregulation und Selbstregulation sind zwei Grundpfeiler emotional gesunder Beziehungen. Beide Konzepte stammen ursprünglich aus der Bindungsforschung, haben aber in der emotionsfokussierten Paartherapie (EFT) sowie im Developmental Model von Ellyn Bader und Peter Pearson jeweils eine eigene Bedeutung und Funktion erhalten. Aus meiner Sicht bilden diese beiden Schulen für Paartherapie bilden das Fundament moderner Paartherapie.
Auf den ersten Blick scheinen die emotionsfokussierte Therapie und das Developmental Model zwei unterschiedliche, fast gegensätzliche Botschaften zu vermitteln: Die EFT betont die Co-Regulation – das beruhigende, verbindende Halten zweier Menschen. Das Developmental Model hebt dagegen die Selbstregulation hervor – die Fähigkeit, eigene Emotionen zu tragen, ohne sich in der Beziehung zu verlieren oder den Partner zu überfordern. Doch gerade diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung macht die integrative Paartherapie stark.
Moderne, integrative Paartherapie soll Paare dabei unterstützen, sowohl sichere emotionale Bindung zu erleben als auch innere Stabilität aufzubauen. Was wie ein Widerspruch wirkt, erweist sich als komplementäres Zusammenspiel – eine Balance, die die Grundlage für reife, belastbare und lebendige Beziehungen schafft.
Koregulation: Die Kunst, sich emotional gegenseitig zu halten
EFT: Bindung als Basis für gemeinsame Beruhigung
Die emotionsfokussierte Therapie geht davon aus, dass Menschen von Natur aus auf Bindung angewiesen sind. Emotionale Sicherheit entsteht, wenn Partner erleben:
- „Du bist da, wenn ich dich brauche.“
- „Du reagierst auf meine Signale.“
- „Ich bin dir wichtig.“
Koregulation bedeutet in dieser Logik: Zwei Nervensysteme beruhigen sich gegenseitig. EFT sieht Dysregulation – Wut, Rückzug, Vorwürfe, Erstarren – nicht als Charakterproblem, sondern als Hinweis auf einen Bedrohungs- oder Verlustalarm im Bindungssystem. Wenn Koregulation gelingt, wird dieser Alarm entschärft, Nähe wird wieder möglich und Konflikte verlieren ihre Schärfe.
Developmental Model: Koregulation als Fähigkeit der frühen Beziehungsphase
Im Entwicklungsmodell gehört funktionierende Koregulation zur Phase der Symbiose, der frühen Beziehungsphase. Dort schafft sie:
- Sicherheit
- Nähe
- gegenseitige Bestätigung
- das Gefühl: „Wir gehören zusammen.“
Koregulation ist hier nicht romantische Kuscheligkeit, sondern eine entwicklungspsychologische Notwendigkeit. Erst sie ermöglicht es, im späteren Verlauf mehr Autonomie zu entwickeln.
Selbstregulation: Der Weg zu innerer Stabilität und differenziertem Handeln
EFT: Selbstregulation als Fähigkeit, eigene Emotionen bewusst zu halten
EFT erkennt an, dass nicht jede emotionale Reaktion sofort in der Beziehung bearbeitet werden kann. Selbstregulation bedeutet hier:
- innere Zustände wahrnehmen
- eigene Trägerpunkte erkennen
- sich beruhigen können, bevor man eskaliert
- Verantwortung für das eigene innere Aufgewühltsein übernehmen
EFT arbeitet gezielt damit, dass Menschen zunächst ihre eigenen primären Emotionen kennen – bevor sie lernen, sie gemeinsam mitzuteilen.
Developmental Model: Selbstregulation als Kern der Differenzierungsarbeit
Im Entwicklungsmodell steht Selbstregulation im Zentrum der individuellen Reifung.
Sie ist die Grundlage für:
- Differenzierung
- Selbstverantwortung
- Grenzsetzung
- eigene Bedürfnisse klar kommunizieren
- Eigenständigkeit ohne Rückzug
Selbstregulation ist in diesem Modell essenziell für die späteren Phasen wie Differenzierung und Transformation. Ohne sie bleibt ein Paar in der Symbiose stecken oder fällt in destruktive Muster aus Angriff und Rückzug.
Wie Koregulation und Selbstregulation zusammenwirken
Eine reife Beziehung braucht immer beides:
- Koregulation, um sich sicher, gehalten und verbunden zu fühlen
- Selbstregulation, um autonom, differenziert und handlungsfähig zu bleiben
Paare geraten in Schwierigkeiten, wenn eines der beiden Elemente fehlt oder überwiegt:
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Ungleichgewicht |
Typische Dynamiken |
|---|---|
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Zu viel Koregulation, zu wenig Selbstregulation |
Verschmelzung, Verlust der eigenen Identität, Überlastung, emotionale Erschöpfung |
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Zu viel Selbstregulation, zu wenig Koregulation |
Distanz, Einsamkeit trotz Beziehung, „Ich mach alles mit mir selbst aus“ |
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Beides geschwächt |
Eskalation, verletzende Vorwürfe, Shutdown, wiederkehrende Muster |
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Beides entwickelt |
Reife Liebe, Verbindung ohne Verlust der Autonomie, echte Intimität |
Moderne, integrative Paartherapie: Warum die Kombination von EFT & Developmental Model so wirkungsvoll ist
Beide Modelle beleuchten dieselben Prozesse – aber aus unterschiedlichen Perspektiven.
EFT stärkt die emotionale Bindung, indem sie:
- die verletzlichen Gefühle sichtbar macht
- bindungsorientierte Bedürfnisse aktiviert
- neue Muster der Koregulation etabliert
- das „Wir“ wieder sicher macht
Das Developmental Model stärkt die individuelle Reifung, indem es:
- Selbstverantwortung einfordert
- Differenzierung fördert
- Paaren hilft, Konflikte als Wachstumschance zu begreifen
- vermeidet, dass Bindung zu Abhängigkeit wird
Gemeinsam ermöglichen beide Ansätze eine Doppelbewegung: Mehr Nähe, ohne sich zu verlieren – und mehr Autonomie, ohne sich voneinander zu entfernen.
Gerade für kurzzeitintensive Paartherapie ist diese Kombination ideal, weil sie Paaren in kurzer Zeit sowohl neue emotionale Erfahrungen (EFT) als auch konkrete Entwicklungsimpulse (Bader & Pearson) vermittelt.
Integrative Paartherapie: Was Paare lernen können
In intensiven Paartherapie-Workshops zeigt sich oft sehr schnell, wie beide Arten der Regulation ineinandergreifen. Typische Lernziele sind:
1. Trigger erkennen und benennen
Beide Modelle arbeiten mit Bewusstheit und emotionaler Transparenz.
2. Sich gegenseitig deeskalieren
Neue Muster der Koregulation ersetzen alte Schleifen.
3. Eigene Emotionen halten, ohne zu überfordern
Selbstregulation bedeutet innere Führung übernehmen – nicht abklemmen.
4. Offene, klare Kommunikation entwickeln
Differenzierung heißt: ich spreche über mich – nicht über deine Fehler.
5. Verbindung herstellen, ohne zu verschmelzen
Nähe und Autonomie werden zu zwei Seiten derselben Medaille.
Schlussgedanke: Beziehung als Entwicklungsraum
Eine Partnerschaft ist kein statischer Zustand, sondern ein dynamischer Entwicklungsraum. Koregulation bietet Halt. Selbstregulation bietet Freiheit. In Kombination ermöglichen sie:
- echte Intimität
- Reifung
- Widerstandsfähigkeit
- Verbundenheit, die auch Krisen trägt
EFT und das Developmental Model liefern dafür die wissenschaftlich fundierten, therapeutisch bewährten Werkzeuge. Sie zeigen Paaren, dass Liebe nicht darin besteht, immer harmonisch zu sein, sondern miteinander immer wieder neue Wege der Entwicklung zu finden – in Verbindung und in Autonomie.